Als alles machbar schien

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 9 Min.
Ob es 500000 Menschen waren, die am 4. November 1989 in Berlin für eine grundlegende Erneuerung der DDR demonstrierten, wie damals im ND vermeldet, oder eine knappe Million, wie es in der »Welt« hieß, es war etwas bis dahin in der DDR Undenkbares. Eine offiziell genehmigte Protestkundgebung: Das signalisierte ein verändertes Verhältnis zwischen Regierung und Volk. Ein Einlenken zunächst nur.
Die Massenflucht via Ungarn und Botschaft in Prag und die zugespitzte innenpolitische Situation wären mit bisherigen Machtmitteln vielleicht noch für kurze Zeit beherrschbar gewesen, aber das hätte zu einer Eskalation von Gewalt geführt. Dazu wollte sich die DDR-Führung nicht entschließen, zumal Moskau auf »Perestroika« drängte.
Kurz vor halb zehn an jenem Samstag setzte sich der Marschzug durch die Berliner Innenstadt in Bewegung, kurz vor halb zwölf begann die Kundgebung auf dem Alexanderplatz. Innerhalb von drei Stunden traten 24 Redner ans Mikrofon. Und fast die ganze Zeit kreiste über dem Platz ein Flugzeug - auch dies gehörte zur eigenartigen Stimmung jenes Tages: Trotz, noch vermischt mit jener alten Angst, von der man wusste, dass sie zu überwinden war. Hunderte Ordner mit Schärpen »Keine Gewalt« - eine andere Situation als bei den Protesten am 7. Oktober. Aber was, wenn sich der Zug zum Brandenburger Tor bewegen würde? Dass das Gesetz über Reisen ins Ausland, dessen Entwurf das ND am 6. November »zur Diskussion« stellte, drei Tage später gegenstandslos würde, das konnte sich noch niemand vorstellen.
Aufgerufen zur Demonstration hatten Berliner Theaterleute, Schriftsteller wie Stefan Heym, Christa Wolf, Heiner Müller, Christoph Hein schlossen sich an, Wissenschaftler wie Jens Reich, der Rechtsanwalt Gregor Gysi, der sich durch sein Eintreten für Rechtsstaatlichkeit in der DDR einen Namen gemacht hatte, der Wittenberger Pfarrer Friedrich Schorlemmer, Initiator der Bewegung »Schwerter zu Pflugscharen«. Der ehemalige Chef der HVA, Markus Wolf, der mit seinem Buch »Die Troika« (1988) Signale für Veränderungen gegeben hatte, wurde von Pfiffen unterbrochen. Ein Machtwechsel war Konsens, aber wie weitgehend und von wem getragen, darüber waren Kontroversen zu erwarten. Die Plakate auf der Demonstration ließen vermuten: Egon Krenz würde als Nachfolger Honeckers nicht die nötige Massenakzeptanz finden. Günter Schabowski ebenso wenig, auch wenn er als Erneuerer auftrat. Noch gabe es keine politische Struktur, die die erwünschten Veränderungen hätte tragen können. Was außenpolitisch lief und wer welche Fäden im Inneren zog, darüber ließ sich nur spekulieren.
Der 4. November 1989 war ein Triumph des freien Wortes. Nicht mehr. Und nicht weniger. Ein rosaroter Moment in der Geschichte, den man auskosten musste. Künstler hatten ein Kunstwerk geschaffen, wie man es sich größer nicht vorstellen konnte. Für Stunden waren Utopie und Wirklichkeit vereint. Verzückung in Leichtigkeit: Wenn genug Leute auf der Straße sind, dann ändern wir zusammen, was uns bedrückt. Eine Gesellschaft, die den Menschen nicht einer fremden Macht unterordnet - etwas ganz Neues sollte entstehen.
»Sozialromantik« würde später dafür noch ein milder Ausdruck sein. DDR-Intellektuelle traf ein Regen von Vorwürfen: privilegiert, systemerhaltend, realitätsfern, IM, IM, IM. Eben noch von Medien der BRD als »Reformkräfte« hofiert, waren sie nun der Anpassung an neue Machtverhältnisse hinderlich. Aber das Ideal einer solidarischen Gesellschaft ohne Ausbeutung und Entfremdung, das ist etwas, was irgendwo in jedem Menschen nistet. Man soll es nicht wegschieben aus Angst oder Kleinmut, krisenhafte Verhältnisse beim Namen nennen - im Großen wie im Kleinen - und nicht verleugnen, was man im Grunde will. Und man soll, so gut es eben geht, sich im Alltäglichen entsprechend verhalten. Sich bewegen, statt auf eine Bewegung von irgendwoher zu warten. Das ist das Erlebnis des 4. November. »Wer lebt, sage nie Niemals.« Nachfolgend einige kurze Auszüge aus Reden jenes Tages

Marion van de Kamp
... Die Straße ist die Tribüne des Volkes. Überall dort, wo es von den anderen Tribünen ausgeschlossen wird. Hier findet keine Manifestation statt, sondern eine sozialistische Protestdemonstration ...

Jan Joseph Liefers
... Ich glaube allerdings nicht, dass in 40 Jahren DDR-Geschichte nur einzelne Personen immer wieder in Krisen führten, sondern auch die von ihnen geschaffenen und zentrierten Strukturen ... Neue Strukturen müssen wir entwickeln, für einen demokratischen Sozialismus...

Gregor Gysi
... wirksame Parlamentsarbeit, neues ökonomisches Denken und vor allem der Ausbau der Rechtsordnung ... klar ist, dass die beste Staatssicherheit immer noch die Rechtssicherheit ist ... wir brauchen eine Kontrolle des Volkes durch demokratisch gewählte Kontrollgremien über den Staat, auch über seine Sicherheitsbereiche ...

Marianne Birthler
... Auf diesem Platz ist hunderttausendfache Hoffnung versammelt. Hoffnung, Fantasie, Frechheit und Humor ... Abrüstungsprogramme für Wasserwerfer und ähnliche Geräte müssen entwickelt und durchgesetzt werden. In den Betrieben krempeln Werktätige ihre Gewerkschaften um oder gründen lieber gleich neue. Studenten organisieren sich ... Lehrer tun sich zusammen, um etwas zu verändern ... Wer etwas tun will, hat viel Auswahl.

Markus Wolf
... Trotz zunehmend mahnender Stimme in unseren eigenen Reihen konnten wir nicht verhindern, dass unsere Führung bis zum 7. Oktober in einer Scheinwelt lebte und selbst dann noch versagte, als die Menschen anfingen, mit den Füßen abzustimmen. Das war bitter für uns Kommunisten ... Viele haben schon lange um Lösungen gekämpft ... Diese Vorschläge gehören jetzt in den Dialog und an die Öffentlichkeit...

Jens Reich
... Freiheit ist Befreiung, und wir alle müssen uns frei machen von Angst, von der Angst, es könnte alles aufgezeichnet und später gegen mich ausgewertet werden ... von Kleinmütigkeit, es hat ja doch keinen Sinn, nichts wird sich ändern, alles bleibt beim Alten. Nein, wir müssen unser Verfassungsrecht wahrnehmen, nicht nur hier auf der Demo, sondern vor dem Chef, vor den Kollegen, vor dem Lehrer, vor der Behörde, überall. Und wir müssen jedem beistehen, der dies Recht ausübt, nicht abwarten, ob er sich den Hals bricht. Wir sollen zuletzt auch Solidarität nicht vergessen. Das Wort wird so leicht zur Phrase, sozusagen zum Soli-Aufkommen ...

Stephan Heym
... es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation ... Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen. Und das, ... in Deutschland, wo bisher sämtliche Revolutionen danebengegangen und wo die Leute immer gekuscht haben ... Aber sprechen, frei sprechen, gehen, aufrecht gehen, das ist nicht genug. Lasst uns auch lernen zu regieren ... Der Sozialismus - nicht der Stalinsche, der richtige -, den wir endlich erbauen wollen ... ist nicht denkbar ohne Demokratie ...

Friedrich Schorlemmer
... Wir brauchen eine Koalition der Vernunft, die quer durch die bisherigen Parteien und quer durch die neuen Bewegungen geht ... Und zu uns aus der neuen demokratischen Bewegung möchte ich sagen: setzen wir an die Stelle der alten Intoleranz nicht neue Intoleranz. Seien wir tolerant und gerecht gegenüber den alten und neuen politischen Konkurrenten, auch einer sich wandelnden SED ... Wir werden noch durch ein Tal hindurchgehen, wir werden uns nicht durch besonderen Wohlstand auszeichnen können, aber vielleicht durch mehr Freundlichkeit und Wärme ...

Christa Wolf
... Mit dem Wort Wende habe ich meine Schwierigkeiten. Ich sehe da ein Segelboot, der Kapitän ruft: »Klar zur Wende!« - weil der Wind sich gedreht hat und die Mannschaft duckt sich, wenn der Segelbaum über das Boot fegt. Stimmt das Bild? ... Ich würde von revolutionärer Erneuerung sprechen. Revolutionen gehen von unten aus. »Unten« und »oben« wechseln ihre Plätze in dem Wertesystem und dieser Wechsel stellt die sozialistische Gesellschaft vom Kopf auf die Füße ... Ja, die Sprache springt aus dem Ämter- und Zeitungsdeutsch heraus, in das sie eingewickelt war, und erinnert sich ihrer Gefühlswörter. Eines davon ist: Traum. Also träumen wir mit hellwacher Vernunft. Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg! ...

Heiner Müller
... Wenn der Lebensstandard für die meisten von uns nicht erheblich sinken soll, brauchen wir eigene Interessenvertretungen. Gründet unabhängige Gewerkschaften ...

Lothar Bisky
... Die Studenten haben mir ihr Vertrauen ausgesprochen, dafür habe ich viel Kritik erhalten. Ich fordere Amtsinhaber auf, sich zu fragen, ob sie sich nicht auch demokratisch legitimieren lassen ... Wer nicht auf die Stimmen der Jungen hört, hat die Zukunft des Sozialismus schon aufgegeben. Vorschlag für die nächste Demonstration: Wir brauchen nicht nur Lautsprecher, sondern auch Zuhörgeräte.

Christoph Hein
... Ich möchte uns alle an einen alten Mann erinnern ... Ich spreche von Erich Honecker. Dieser Mann hatte einen Traum, und er war bereit, für diesen Traum ins Zuchthaus zu gehen. Dann bekam er die Chance, den Traum zu verwirklichen. Es war keine gute Chance, denn der besiegte Faschismus und der übermächtige Stalinismus waren dabei Geburtsfehler. Es entstand eine Gesellschaft, die wenig mit Sozialismus zu tun hatte. Von Bürokratie, Demagogie, Bespitzelung, Machtmissbrauch, Entmündigung und auch Verbrechen war und ist diese Gesellschaft gezeichnet ... Ich erinnere an diesen alten Mann nur deshalb, um uns zu warnen, dass nicht auch wir jetzt Strukturen schaffen, denen wir eines Tages hilflos ausgeliefert sind ...

Steffi Spira
1933 ging ich allein in ein fremdes Land. Ich nahm nichts mit, aber im Kopf hatte ich einige Zeilen eines Gedichts von Bertolt Brecht: Lob der Dialektik. »So wie es ist, bleibt es nicht. Wer lebt, sage nie Niemals. Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein. Und aus Niemals wird Heute noch!«
Ich wünsche für meine Urenkel, dass sie aufwachsen ohne Fahnenappell, ohne Staatsbürgerkunde und dass keine Blauhemden mit Fackeln an den hohen Leuten vorübergehen. Ich habe noch einen Vorschlag: Aus Wandlitz machen wir ein Altersheim! Die über 60- und 65-Jährigen können jetzt schon dort wohnen bleiben, wenn sie das tun, was ich jetzt tue - Abtreten! Außerdem sprachen: Johanna Schall, Ulrich Mühe, Manfred Gerlach, Ekkehard Schall, Günter Schabowski, Tobias Langhoff, Joachim Tschirner, Klaus Baschleben, Roland Freitag, Robert Juhoras, Konrad Elmer Künstlerische Beiträge: Gerhard Schöne, Jürgen Eger, Steffen Mensching, Hans-Eckardt Wenzel, Kurt Demmler, Annekathrin Bürger Moderation: Henning Schaller Reden unter: www.dhm.de/ausstellungen/ 4november1989/htmrede.html
Fotos: Der Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989 (ND-Archiv) und nach 15 Jahren (Foto: B.Lange)
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